Vom Kellerclub zur Konzertbühne

REVIEW – AUS DER GESCHICHTE DES DOMICILS

Zum 50-jährigen Geburtstag hat der Essener Klartext-Verlag einen bildreichen Rückblick herausgegeben, der nicht nur auf ein halbes Jahrhundert eindrucksvoller Jazz-Geschichte, sondern ebenso auf zwei schillernde Locations, vielfältige Programme mit herausragenden Musikern, einem lebendigen Trägerverein und aktuelle Entwicklungen zurückblick. In unserer Review-Reihe dokumentieren wir in lockerer Folge Auszüge aus dem seitenstarken Werk. Heute: Vom Mythos mit Schattenseiten Der Club in der Leopoldstraße. Günter Maiß, Ex-domicil-Programmmacher und Ex-Vorsitzender, erinnert sich an die ersten Jahre im Keller einer Kindertagesstätte in der Dortmunder Nordstadt.

Das alte domicil

Der Weg in den Club, damals noch unumstritten als „Jazzclub“ tituliert, führte eine steile Treppe hinunter – 1978 das erste Mal für mich! Im Eingangsbereich gab es eine große Pinnwand mit Plakaten Dortmunder Veranstalter. Die Clubräumlichkeiten umfassten insgesamt 250 Quadratmeter – gelegen in der Nordstadt, behaftet mit einem umstrittenen Image: Einige sehen in ihr vor allem den sozialen Brennpunkt, andere die Qualität eines lebendigen, multikulturellen Innenstadtquartiers. Das domicil profitierte von der Lage, denn es gab kaum Nachbarschaftsprobleme wegen des Lärms, der gelegentlich nach außen drang.

Die Immobilie wurde dem Verein vom Jugendamt mietfrei überlassen. Zuvor war der James-Dean-Fanclub hier beheimatet. Seit der Eröffnung am 15. März 1969 blieb der Zustand bis Anfang der 1990er Jahre nahezu gleich. Es gab eine riesige Musikergarderobe („Backstage“), der Flur dagegen war winzig. Hiervon gingen der Clubraum, Backstage, Lager und zwei WCs ab. Kurios wurde es immer, wenn sich übermäßig höfliche Musiker in die WC-Schlange einreihten und das Publikum oder die Restband sehnlichst auf den Konzertbeginn wartete. Immerhin gab es seit 1997 für die Gäste mehr Aufenthaltsqualität: Der Backstage-Bereich wurde verkleinert und dadurch ein Foyer mit Stühlen und Bistrotischen geschaffen.

Gewisser Charme

Der Raum hinten links war Technikraum, Getränkelager und Büro. Der sogenannte Backstage-Bereich, nach der Verkleinerung nur noch etwa 20 Quadratmeter groß – bot eine Ansammlung höchst hässlicher Sofas und Sessel aus diversen Sperrmüllaktionen mit Platz für etwa acht Personen, also genug für einen normalen Konzertabend. Ein gesteigertes Gefühl der Beklemmung ging aus von den Gitterstäben vor den Milchglas-Souterrainfenstern. Die geschickte und ausschließliche Nutzung der dimmbaren Standleuchte verschaffte dem Raum nach Einbruch der Dunkelheit immerhin einen gewissen Charme, der gestalterische Mangel oder Materialermüdung fast vergessen ließ.

Der Konzertraum war schlicht schwarz, kontrastiert mit roten Heizkörpern und Lüftern: Anarcho-Charme. In den 1990er Jahren wurden auch die Heizkörper schwarz. Der fast quadratische Clubraum hatte die beachtliche Große von etwa 144 Quadratmetern. Zwei Säulen waren statische und gestalterisch prägende Elemente in der Mitte des Raumes und sorgten dafür, dass die Kita-Kinder oben blieben. Die Bestuhlung und die runden Tische wurden je nach Andrang aufgebaut.

Kernstück Bühne

Das Kernstück des domicil war die Bühne, die Jazzgeschichte atmete, auf der ich Legenden wie Chet Baker, Archie Shepp, Joe Pass, Albert Mangelsdorff, Enrico Rava, Jango Edwards, Elvin Jones, Bill Frisell, Joe Zawinul und David Murray erlebt habe. Diese Bühne war ein handgefertigtes Unikat, 3,55 mal 5,78 Meter. Wegen der niedrigen Decke hatte die Bühne selbst nur eine Hohe von 13 Zentimetern. Die geschmackvolle Umrandung war gerade so breit, dass sich ermüdete Musiker gerne dort niederließen, wenn die abgestellten Glaser der Gäste genug Platz ließen. Das rechte Seitenteil der Bühnenumrandung war abnehmbar, so dass fast der halbe Clubraum als Bühne genutzt werden konnte: Auftritte von Bigbands waren somit kein logistisches Problem. In guter Erinnerung ist der spektakuläre zweitägige Auftritt des Vienna Art Orchestra, den es in dieser Form bestimmt nur im domicil gab: Aufgrund der Enge ragten die beiden Alphörner bis in die zweite Publikumsreihe und sorgten für akustische Finesse.

Patentreif war die Lüftung im Club. Viele Gäste glaubten lange Zeit, es gebe keine. Immerhin aber wurde bis in die 1990er Jahre die sauerstoffentleerte, teergesättigte Luft in kleineren Dosen von zwei Ventilatoren durch die Kellerfenster hinausbefördert. Wer das überlebt hatte, kam Jahre später dank einer Sparkassen-Spende in den Genuss zusätzlicher Aggregate in den gegenüberliegenden Kellerfenstern, die Frischluft hineinbliesen.

Was die Beschallungs- und Lichttechnik angeht, wurde nach und nach aufgerüstet. Der Sechs-Kanal-Mischer wurde Anfang der 1980er Jahre durch ein Zwölf-und-mehr-Kanal- Mischpult ersetzt. Die Schlichtheit der analogen Technik hatte den Vorteil, dass sich ehrenamtliche Mixer schnell einarbeiten konnten. Ein Flügel wurde 1989 angeschafft, nachdem uns Don Pullen die rote Karte gezeigt hatte – er hatte mit seiner Agentur vereinbart, die nächste Tour nur noch auf Flügeln zu spielen. Die Agentur ging sehr verschwiegen damit um, so dass Pullen beim Anblick des Klaviers – eines guten Yamaha Upright Pianos – auf dem Absatz kehrt machte. Das verbliebene Trio mit George Adams, Cameron Brown und Dannie Richmond spielte dennoch ein grandioses Konzert.

Schlichte Technik

Die Schlichtheit der Technik setzte sich am Tresen fort: Ein Zapfhahn für Pils, zwei Kühlschranke für eine übersichtliche Auswahl an Getränken, eine Kaffeemaschine und eine Registrierkasse. Sie wurde, trotz der brachialen Mechanikgeräusche beim Registrieren, bis in die 1980-er Jahre genutzt. Sensible Tresenkräfte führten in leisen Passagen Verkaufs-Strichlisten, die dann nachregistriert wurden. Es gab zwar Schankverluste am oberen Toleranz-Level, aber die Nutzung der Registrierkasse war mehr Kult als ein Versuch, das Prinzip „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ einzuführen. Insgesamt ermöglichte die simple Ausstattung eine problemlose Einarbeitung. Das Fasswechseln war dann schon fast eine Gesellenprüfung. Meister waren die sogenannten „Abendverantwortlichen“, allesamt ehrenamtliche Vereinsmitglieder, die am Ende des Abends noch rechnen können mussten.

Wehmut kommt nicht auf beim Sinnieren über die alten Zeiten. Verklärte Konzerterinnerungen erzeugen den Eindruck, dass das domicil in der Leopoldstraße 60 ein wirklich toller Club war. Aber die Vorzüge der neuen Location (in der Hansastraße. Anmerkung der Redaktion) sind zu groß, um dem Keller nachzutrauern. Und die Musiker sind seit dem Umzug 2005 dankbar für die professionellen Rahmenbedingungen.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Klartext, Essen. Erschienen im April 2019. ISBN-10 : ‎ 383751983X

Kommentare

Peter Hellweg |

Oft mit liebevoll verklärten Augen betrachtet, aber absolut toxisch wegen einer Zigarettenrauchdichte, die an London im Smog erinnerte.
Allerdings bester Jazz.

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